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Titel
Das gespaltene Europa. Eine politische Soziologie der Europäischen Union


Autor(en)
Lahusen, Christian
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: Campus Verlag
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ines Soldwisch, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

In seinem Buch „Das gespaltene Europa“ verfolgt der Soziologe Christian Lahusen (Universität Siegen) die Frage nach den Konturen einer politischen Gesellschaft in Europa. Im einleitenden Kapitel geht es zunächst darum, ob es überhaupt eine europäische Gesellschaft gibt oder ob Europa letztlich aus einem Nebeneinander nationaler Gesellschaften besteht. Lahusen stützt sich für die Beantwortung dieser Frage auf zwei forschungsleitende Annahmen, die beide davon ausgehen, dass die Etablierung der Europäischen Gemeinschaft (EG)/Europäischen Union (EU) politische Beteiligungsformen und Einstellungen der EU-Büger/innen verändert haben. Die erste Prämisse fasst die Europäische Integration als einen neuen Herrschaftsverband auf, der neue Arenen der Beteiligung geschaffen und somit zur Erweiterung des politischen Horizonts beigetragen hat. Die zweite Prämisse begreift Europa als erweiterte politische Arena, die jedoch für die Bürger/innen weniger relevant als die nationalstaatliche ist. Beide Zustandsbeschreibungen, so der Autor, seien jedoch umstritten (S. 40). Lahusens Anspruch ist daher, „das Nationale im Europäischen und das Europäische im Nationalen zu ermitteln“ (S. 40).

Im zweiten Kapitel „Europa als politisches Feld: Theoretische Verortungen“ (S. 27–62) wird folglich das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Referenzrahmen in den Mittelpunkt gerückt. Allerdings kommt Lahusen hier nicht zu einer klaren Erkenntnis in Hinblick auf die eingangs skizzierte Leitfrage, sondern diskutiert andere Forschungsmeinungen, anhand derer die eigene Fragestellung weiterentwickelt wird. Im dritten Kapitel „Europa als Konfliktfall: Die Europäische Union zwischen öffentlicher Zustimmung und Ablehnung“ (S. 63–130) versucht der Autor anhand von Eurobarometer-Untersuchungen dem von ihm konstatierten Zusammenhang zwischen politischen Orientierungen/Einstellungen und Wahrnehmung des sozialen und gesellschaftlichen Raumes nachzuspüren.

Er kommt zu dem Schluss, dass die Europäische Union sehr wohl zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen in der europäischen Bevölkerung geworden ist. Seine Auswertungen der Umfragen belegen, dass diese Auseinandersetzungen mit und über die EU „gesellschaftliche Spaltungsstrukturen widerspiegeln“ (S. 126). Gemeint sind hier vor allen Dingen gesellschaftliche Spaltungen in Fragen des Arbeitsmarktes, der Migration, der Zufriedenheit mit der Politik der EU insgesamt, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Jedoch handele es sich bei diesen Spaltungsstrukturen lediglich um Tendenzen.

Lahusen weist nach, dass soziale Stellungen in der Gesellschaft die positiven wie negativen Einstellungen zur EU und deren Politik prägen. Solche Urteile über den europäischen Integrationsprozess und die EU insgesamt seien jedoch höchst individuell und vereinten ein ganzes Konglomerat an Motiven in sich. Deutlich wird in Lahusens Darstellung, dass sich die jeweiligen Haltungen hierbei nicht einfach auf eine (nicht-)privilegierte Stellung im eigenen Land zurückführen lassen.

Dieser Gedankengang wird im vierten Kapitel fortgeführt, in dem Lahusen nach „Europa als Kommunikationsraum“ fragt. Hierzu werden Tageszeitungen aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Polen Schweden, Spanien und der Schweiz ausgewertet. Der Autor weist den Massenmedien in den Ländern der EU eine große Rolle bei der Etablierung einer öffentlichen Meinung über Europa zu, bezeichnet sie gar als „Arena und ein Medium der Mobilisierung der öffentlichen Meinung“ (S. 129). Folgerichtig wendet er sich der nationalen Berichterstattung zu und konstatiert, dass das Aufgreifen europapolitischer Themen in den nationalen Medien kaum mit der Schnelligkeit und Komplexität des europäischen Integrationsprozesses mithalten konnte. Hinzu kommt, dass öffentliche Diskurse in den Nationalstaaten – auch bei europäischen Krisen wie der Währungs- und Finanzkrise 2008 – einer primär nationalen Agenda verpflichtet blieben. Dennoch bestand zwischen verschiedenen nationalen Diskursen eine enge Verknüpfung. Es fand also ein internationaler Austausch in der öffentlichen Diskussion statt, etwa über die griechische Staatsschuldenkrise, die in allen Ländern medial prominent thematisiert worden ist.

Hier identifiziert der Autor innerhalb der Printmedien einen geöffneten Kommunikationsraum: Zwar stehe die nationale Berichterstattung weiterhin an erster Stelle, würde jedoch durch die Bezugnahme auf europäische Akteure, Netzwerke und Adressaten zunehmend auch in einen europäischen Kommunikationsraum eingebettet werden (S. 167).

Die Verzahnung der öffentlichen bzw. der veröffentlichten Meinung über nationalstaatliche Grenzen hinweg steht auch im Mittelpunkt des fünften Kapitels: Der Autor fragt nach „Europa als Bewertungsrahmen“, sprich nach der Verbindung von Krisensensibilität und Lebensverhältnissen sowie deren Einfluss auf politische Einstellungsmuster der Menschen in Europa. Lahusen verwendet den Begriff der Krise als Wahrnehmungsbegriff, wobei hier eine begriffliche Schärfung wünschenswert gewesen wäre, wurden und werden doch in den verschiedenen EU-Staaten Krisen durchaus unterschiedlich wahrgenommen. Wie auch im vierten Kapitel greift der Autor auf Daten des Livewhat-Projektes1 zurück, dessen Umfrageergebnisse einen Einblick in die verschiedenen Lebensverhältnisse und Lebenswirklichkeiten in neun EU-Staaten geben. Lahusen folgert daraus, dass die Menschen über die Lebensverhältnisse in anderen EU-Ländern vergleichsweise gut informiert seien. Dass sich daraus (wie Lahusen es tut) auch Rückschlüsse auf das politische Denken über die jeweils Anderen ziehen lassen, leuchtet dem/der Leser/in wegen der doch allgemein formulierten Fragen nicht richtig ein. Hier hätten konkretere Fragen zur Schärfung dieses allgemeinen Befunds gutgetan. Der Autor identifiziert einen europäischen Bezugsrahmen im Denken und konstatiert, dass Europa zunehmend als sozialer Raum mit differierenden Lebensumständen wahrgenommen werde (S. 194). Dennoch gelte weiterhin, dass die Bürger/innen in Europa zuerst im individuellen, dann im nationalen und schließlich im europäischen Rahmen denken.

Dies gilt nach Lahusen gleichermaßen für die Krisenwahrnehmungen der Menschen, für die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung und für den Umgang mit populistischen Tendenzen im eigenen Land und in Europa. Dabei wird wiederum deutlich, dass sich, Lahusen zufolge, politische Meinungen aus zweierlei speisen: den persönlichen Lebensumständen der Individuen und der jeweiligen wirtschaftlichen Situation des eigenen Landes. Auch hier beleuchtet der Autor, im Rahmen einer eigenen Befragung, den europäischen Referenzrahmen, allerdings ist die Länderauswahl deutlich geringer als bei den vorherigen als Quellen benutzten Umfragen, deshalb kann der Aussagegehalt nur bedingt „europäisiert“ werden.

Beim sechsten Kapitel handelt es sich um ein Fazit der vorangegangenen Kapitel. Es widmet sich der „Politischen (Des-)Integration Europas“ (S. 265–289), wobei hier nochmal die Eingangsthese aufgegriffen wird: Das Nationale sei im Europäischen verortet, wie auch das Europäische im Nationalen. Der Autor betont, dass Europa weiterhin mit nationalen Schattierungen gesehen würde, sowohl in den Medien als auch von den Bürger/innen selbst. Gerade aber politische Entscheidungen zu Bewältigung von Krisen, etwa der Wirtschafts- und Finanzkrise in jüngerer Zeit, würden weiterhin mit einem nationalen Erfahrungshorizont wahrgenommen und auf die eigene Situation im Nationalstaat bezogen, was wiederum Einfluss auf die Akzeptanz der EU insgesamt ausübe. Der Autor sieht die größte Herausforderung für die EU daher in der Bewältigung der Spaltungslinien zwischen und innerhalb der Nationalstaaten, deren Polarisierung „unvereinbare Sichtweisen und Bewertungen aufeinandertreffen“ lassen (S. 286).

Für Historiker/innen bieten die von Lahusen genutzten und gelieferten Datensätze eine gute Quellengrundlage, auch wenn die Auswertung und Interpretation der Daten manchmal etwas weitreichend wirken mag. Da der Autor seine eigenen Annahmen jedoch stets auch als solche ausweist, lässt er ausreichend Raum für divergierende Interpretationen. An manchen Stellen wäre eine historische Kontextualisierung sinnvoll gewesen, um die erhobenen Fragen und Antworten besser einordnen zu können. Ein/e Leser/in, der sich nicht mit der Geschichte der europäischen Integration befasst hat, könnte an manchen Stellen etwas verloren dastehen. Dennoch schafft es Lahusen, Erklärungsansätze dafür zu finden, warum der nationale Referenzrahmen bei der Deutung sozialer Prozesse und gesellschaftlicher Dynamiken immer noch vordergründig ist. Auch wenn die Konturen einer „europäischen Öffentlichkeit“ bis heute heftig umstritten sind, gelingt es Lahusen doch zu zeigen, wo und in welchen Fragen sich gemeinsame „europäische“ Wahrnehmungsmuster und gesellschaftliche Deutungsmuster abzuzeichnen beginnen.

Anmerkung:
1https://www.unige.ch/livewhat/ (01.02.2021).